Zeichnung: „Pflanziska“ von Yasemin Müller
Vor dem Lorbeer stehen und Daphne verehren. Ehre oder Hohn? Der Nymphe mit dem wilden Haar gedenken, die nicht sein durfte, ohne verbraucht zu werden – „Dir verbietet deine Schönheit, das zu sein, was du sein möchtest, und deine Erscheinung widersetzt sich deinem Wunsch“[i]. Erst als Rinde ihre Brust verhüllt, die Füße in der Erde verwurzeln und das Haar sich zu Laub auswächst, ist Daphnes Widerwille gebrochen. Erst als Daphne von Götterhand in eine Pflanze verwandelt ist, gelingt es dem von Liebe und Gier gebeutelten Apollon, sich ihrer zu bemächtigen und das Objekt der Begierde zu verwerten. Die Leier soll sie ihm verzieren und seinen Gesang bezeugen, zum Kranz soll sie werden, um sein Haupt zu bedecken. Zum Symbol verkürzt bleibt nicht mehr viel von Daphnes Wut. Vielmehr rechtfertigt ihre neue Form nun die fortwährende Missachtung ihres einstigen Willens, auf dass sie Apollon und seinen menschlichen Ebenbildern nun für immer dienen mag, Widerspruch fortan unmöglich. Vor dem Lorbeer stehen und Daphne gedenken, Ehre oder Hohn?
Die Pflanze durfte nähren und schmücken, passiv und schön als ewige Sehnsuchtsmetapher den Bilderrahmen der menschlichen Lebenskunst umranken […]
Daphnes Dilemma steht sinnbildlich für das Schicksal der Pflanze in der modernen westlichen Kulturgeschichte. Man verformte ihre Vielfalt im Sinne der Dienstbarkeit, unterteilte sie in Nutzpflanze und Zierpflanze, Gift, Heilkraut und Wildwuchs. Die Pflanze durfte nähren und schmücken, passiv und schön als ewige Sehnsuchtsmetapher den Bilderrahmen der menschlichen Lebenskunst umranken, war dabei stets gebunden an eine fremde, nicht-pflanzliche Lebensrealität, die ihr als Maßstab jedoch nicht gerecht wird. Von Philosophen der griechischen Antike etabliert, mit Charles de Bovelles „Pyramide der Lebenden Dinge“ in der Renaissance legitimiert und von Aufklärung und Naturwissenschaftlicher Revolution wider Erwarten weitestgehend unangetastet geblieben, wurde die Idee einer hierarchischen Lebensordnung, die in der unangefochtenen Vollkommenheit des Menschen kulminiert, alsbald zum intellektuellen Status Quo.
Anthropozentrismus, ein Denkmuster, das ánthrōpos, den Menschen, in das Zentrum eines Netzwerkes des Lebens auf der Erde stellt, bildet noch heute die Grundlage zahlreicher Diskussionsprozesse, welche den begrenzten Raum der Erde organisieren. Diese Debatte, um eine post-anthropozentrische Perspektive zu erweitern – eine Perspektive die den Menschen weder als Krone der Schöpfung noch als deren unvermeidbares, apokalyptisches Ende begreift – bedarf einer interdisziplinären Kooperation, sowie der Bereitwilligkeit, die eigene Wahrnehmung, um die Perspektive des anders-Sehenden zu ergänzen, ohne den Anspruch zu erheben diese je völlig durchdringen zu können.
Neue Konzepte von Interspezies-Kooperationsgemeinschaften gewinnen im Angesicht der Klimakrise an Relevanz. Wie also soll Verständigung zwischen den Spezies stattfinden, ohne eine gemeinsame Sprache? Wie können wir das umsetzen, was die Ökofeministin Val Plumwood einst als Kernaufgabe der sich im Wandel befindenden Welt bezeichnete: den Menschen als ökologisches Wesen begreifbar zu machen und gleichsam ethische Kategorien für das Nichtmenschliche[ii] zu öffnen?
Lassen sich in den überlieferten Erzählungen der griechischen Mythologie Anhaltspunkte für eine Kontinuität zwischen pflanzlichem und menschlichem Leben verorten?
Die Basis für dieses Unterfangen sollten Geschichten bilden, jene Geschichten aus denen die moderne westliche Welt, wie wir sie heute kennen, geboren wurde. Was verraten diese Kosmogonien über das Selbstverständnis, sowie über das Naturverständnis unserer Ahnen und wie beeinflussen sie noch immer unser Denken? Lassen sich in den überlieferten Erzählungen der griechischen Mythologie Anhaltspunkte für eine Kontinuität zwischen pflanzlichem und menschlichem Leben verorten? Welche Implikationen hätte dies schließlich für die Aktualisierung unseres zeitgemäßen Verständnisses von pflanzlichem Leben im Sinne des Post-Anthropozentrismus; welche Rolle spielen Erkenntnisse aus der ökofeministischen und posthumanistischen Philosophie dabei? Diese Fragen beginnt das vorliegende Essay zu ergründen.
Ich ist ein Anderes
Während wegweisende Philosophen der griechischen Antike wie Platon und Aristoteles die Grundsteine legten für eine bis zum heutigen Tage andauernde hierarchische Dichotomisierung von Kultur und Natur, Körper und Geist, menschlichem und nicht-menschlichem Leben[iii], finden sich in den mythologischen Überlieferungen ihrer Vorväter in der Tat zahlreiche Beispiele für eine Kontinuität zwischen Mensch und Pflanze. Natürlich sind auch diese nicht frei von Anthropozentrismus, denn wie schon Friedrich Nietzsche bemerkte: „die ‘vulgäre Perspektive‘ unseres eigenen Tierkörpers ist reflektiert in fast allem, welchem wir Wert zuschreiben“[iv]. Dennoch erweisen sich zum Beispiel Ovids „Metamorphosen“ als reichhaltiges Quellmaterial für anthropologische Investigationen, die dokumentieren, wie wir uns im Umgang mit dem „Anderen“ selbst offenbaren.
Wo Verwandlungen von Mensch zu Pflanze stattfinden und dem Menschen auch in Pflanzengestalt das Vermögen, seine Sensibilität zum Ausdruck zu bringen, zugeschrieben wird, lässt sich eine ontologische Verbindung beider annehmen.
Wo Verwandlungen von Mensch zu Pflanze stattfinden und dem Menschen auch in Pflanzengestalt das Vermögen, seine Sensibilität zum Ausdruck zu bringen, zugeschrieben wird, lässt sich eine ontologische Verbindung beider annehmen. Deshalb sind die Mythen um Myrrha, Baummutter des Adonis, und die Harztränen weinenden Töchter des Helios, genannt Heliaden, relevant für den posthumanistischen Diskurs. Sie dokumentieren die hier schon präsente Annahme, dass bestimmte Lebensmechanismen nicht allein dem Menschen vorbehalten sind. Es wird impliziert, dass sich lediglich die Ausdrucksmittel unterscheiden, nicht aber die Fähigkeit und das Bedürfnis Welterfahrung zu kommunizieren, per se.
Myrrha verführt in einem Akt der Täuschung ihren Vater und empfängt infolgedessen den gemeinsamen Sohn Adonis. Um sie vor der Rache des Vaters zu bewahren, verwandelt Aphrodite Myrrha in einen Myrrhenbaum. Das Kind wächst jedoch weiter im metamorphosierten Bauch der Mutter heran und wird nach neun Monaten, von Schmerzensschreien begleitet, aus ihrem Stamm geboren. Adonis, der Baumgeborene, wird zum lebendigen Zeugnis dessen, was heute im Sinne des Posthumanismus als „Natur-Kultur-Kontinuum“[v] bezeichnet wird, dem Konzept eines fließenden Übergangs von Lebenstechniken und Lebensrealitäten zwischen den Spezies, der eine saubere Spaltung in „Gegebenes“ (Natur) und „Geschaffenes“ (Kultur) verunmöglicht. Myrrha fungiert als ökologisches Bindeglied. Sie verkörpert den „Baum des Lebens“, einen gemeinsamen organischen Ursprung unterschiedlicher Arten des Lebens, die sich durch autopoietische (selbst-organisierende) Kraft von ihm ablösen, jedoch genealogisch mit ihm in Verbindung stehen. Yggdrasil, der Weltenbaum der nordischen Mythologie, ist nur eines von vielen weiteren archaischen Beispielen der Imagination dieser Verknüpfung.
Ihre Tränen werden nicht versiegen, keinen Trost werden sie finden, denn das Pflanzendasein endet nicht mit dem Tod, es ist geprägt von kollektiver Kontinuität.
Auch die Geschichte der Heliaden verweist auf eine ontologische Verbundenheit zwischen Mensch und Pflanze, weil Charakteristika wie Leidensfähigkeit und Sentimentalität hier einer pflanzlichen Existenz zugeschrieben werden. Die Töchter des Helios bezeugen den tragischen Tod ihres Halbbruders Phaeton, der mit dem Sonnenwagen seines Vaters vom Himmel stürzt. Die Tiefe ihrer Trauer kann keinen Ausdruck finden in göttlichen Tränen – so metamorphosieren die Schwestern zu Bäumen. Als Pappeln beweinen sie ihn auf ewig, mit Tränen aus Harz. Erst dieser Ausdruck des Leidens offenbart das Ausmaß der Tortur, die den Heliaden bestimmt ist. Ihre Tränen werden nicht versiegen, keinen Trost werden sie finden, denn das Pflanzendasein endet nicht mit dem Tod, es ist geprägt von kollektiver Kontinuität. Pflanzenneurobiologe Stefano Mancuso vergleicht dieses Prinzip mit dem einer „Schwarmintelligenz“, wie sie in Ameisenkolonien oder Vogelscharen zu beobachten ist. Pflanzen agierten demnach in der Gemeinschaft, nicht als Individuen.[vi] Selbst nach dem „Tod“ eines einzelnen Baumes bleiben dessen Wurzeln durch Pilzwurzeln, mykorrhiza, mit dem gesamten System in Verbindung und werden mit Nährstoffen versorgt. Wenn also die Heliaden noch als Pflanzen in der Lage sind zu leiden, gar auf dieses Leid reduziert sind (scheinbar wird es eben nicht von neuen Erfahrungen überschrieben, denn die Tränen fließen weiter), so setzt ihre Metamorphose dem Phaeton ein fragwürdiges Denkmal – eines welches den eigenen Schmerz auf ewig zu ertragen verdammt ist.
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– von Juliane Rohrwacher
Das vollständige Essay wurde für den „Mythoblog“ des Arbeitskreises für Vergleichende Mythologie e.V. verfasst und ist hier zu finden:
Im vollständigen Text wird weiterhin besprochen:
Narcissus im Spiegelkabinett des Anthropozentrismus
Der Mythos der bezähmbaren Frau
Picknick unter dem Weltenbaum
Anmerkungen:
[i] Ovid, Metamorphosen Buch eins, Verse 485-490.
[ii] “The theory I advocate aims to disrupt this deep historical dualism by resituating humans in ecological terms at the same time as it resituates non-humans in ethical and cultural terms. It affirms an ecological universe of mutual use, and sees humans and animals as mutually available for respectful use in conditions of equality.” Plumwood (2012), S. 78.
[iii] Vgl. Plumwood (1993), S. 81: „Platonic philosophy is organised around the hierarchical dualism of the sphere of reason over the sphere of nature, creating a fault line which runs through virtually every topic discussed, love, beauty, knowledge, art, education, ontology…. In each of these cases the lower side is that associated with nature, the body and the realm of becoming, as well as of the feminine, and the higher with the realm of reason.”
[iv] Vgl. Elaine P. Miller (2002), S. 3, übersetzt von J.R.
[v] Vgl. Braidotti (2013), S. 2-3: “What does this nature–culture continuum amount to? It marks a scientific paradigm that takes its distance from the social constructivist approach, which has enjoyed widespread consensus. This approach posits a categorical distinction between the given (nature) and the constructed (culture). […] [It] rejects dualism, especially the opposition nature–culture and stresses instead the self-organizing (or auto-poietic) force of living matter.”
[vi] Vgl. Mancuso (2015), S. 4-5: “ [Plants] manifest a kind of swarm intelligence that enables them to behave not as individuals but as a multitude–the same behavior seen in an ant colony, a shoal of fish, or a flock of birds.”